25 Jahre

Stanislaw Barszczak—Welt und der Mann lebendig begraben (Erinnerungen)—

Ich habe ja nicht als Politiker angefangen Lyrik zu lesen, sondern als Kind. Ich habe auch schon sehr früh Geschichten von meiner Mutter gehört. Übrigens hat meine Mutter erzählt, dass sie sich, als sie in der Nazizeit auf dem Hof in der Nähe von Przemysl Maćkowice gewesen ist, diese sehr schwierige Zeit in Einzelhaft mit Geschichten ausgefüllt hat. Sie hatte wirklich ein fabelhaftes Gedächtnis. Ich habe bereits als Kind von ihr Geschichten gehört und sie hat mir auch viel vorgelesen. Ich würde gerne sagen, dass ich Geschichten brauchte im Leben. Ich kann das ja ruhig erzählen:.. In einer Welt, die fast nur noch optisch orientiert ist, wird das Ohr vernachlässigt. In der Bibel heißt es aber doch: “Im Anfang war das Wort” – nicht die Schrift. Gott hat also gesprochen: “Es werde Licht”, er hat es nicht geschrieben. Wenn Ulah Hahn sagt die Erfahrung, ein Gedicht laut zu lesen, müsste jeder Mensch einmal machen, und das braucht auch gar nicht vor Publikum sein. Man muss ein Gedicht in den Mund nehmen, um seinen Wortkörper in seiner ganzen Sinnlichkeit zu erfahren. Das ist eine Dimension, die eigentlich den Sinn, die Musik erst erschließt. Ich schreibe heute ja auch Prosa und ich würde wahrscheinlich eine andere Prosa schreiben, wenn ich nicht vorher Gedichte geschrieben hätte…Der Freund ist der Meinung, dass ich immer noch zu viel mache. In wenigen Tagen werde ich 50 Jahre alt und gebe gerne zu, dass ich mich in Anbetracht meines Alters immer noch ganz gut bewegen kann. Aber das Altwerden ist trotzdem auch für mich ein spürbarer Vorgang. Das ist auch ein schmerzhafter Vorgang: Man merkt doch, dass man viele Dinge nicht mehr so kann und will, wie man das mal gekonnt und gewollt hat. Ja, das ist schwierig…Ich will Ihnen eine schöne Geschichte dazu erzählen. Neulich hat zu mir jemand gesagt: “Sagen Sie mal, sind Sie nicht der Priester von Częstochowa? Sie müssen warten.” Das fand ich gut…Ich finde es stattdessen ganz enorm wichtig, sein eigenes Leben zu haben. Wenn ich arbeite am Computer, da bin ich wirklich sehr abwesend. Meine Freunde wissen das aber und Direktor unseren Haus weiß das auch. Ich bin dann einfach nicht da und nehme z. B. auch kein Telefon ab. Ich stelle das Telefon nämlich stumm in dieser Zeit. Wir sprechen beide und haben da kein Problem…Als wir uns kennengelernt haben, war ich 19 Jahre alt. Natürlich hatte ich nicht bis zum 50. Lebensjahr darauf gewartet, bis endlich der richtige Direktor kommt. Im Gegenteil, wenn es ernsthaft wurde mit anderen Priester, dann war ich am Anfang egozentrisch genug, um zu sagen: “Bis hierher und nicht weiter!” Ich glaube, das ging zwischen uns beiden deswegen, weil wir beide bereits fertige Persönlichkeiten waren und weil nicht einer dem anderen sein Leben aufoktroyiert hat. Bei Frauen ist es ja oft so, dass sie sich sagen: “Oh, jetzt habe ich ja endlich den Mann fürs Leben gefunden, jetzt kann ich erst einmal alle viere von mir strecken und mich verwöhnen lassen.” Bei mir hat sich eigentlich nichts verändert durch diese Beziehung: Es ist etwas hinzugekommen, aber das, was vorhanden war, ist geblieben. Das war also nie ein Problem… Wie liebe Leserinnen und Leser wissen habe ja ich selbst auch schon ein paar Bücher geschrieben…Wenn man die eigene Arbeit ernst nimmt, dann nimmt man auch die Arbeit des anderen ernst…Auch mein Freund hat das gelesen, bevor ich dieses Manuskript überhaupt aus dem Haus gegeben habe…Ich konnte es nie begreifen, dass ich 1986 als erfolgreicher Priester als Vikar in die Pfarrei eingetreten bin… Ich glaube, es war eine gewaltige Gnade Gottes und die Pflege der Mutter Jesu in meinem Leben… Ich war in der Politik in der Grundschule interessiert, als ich zur Vorbereitung für eine “Civic Lektion” hatte. Die Politik ist ein rationales Feld…rational sein. In der Sprache, in der Musik doch auch andere Möglichkeiten sehen, die dann wiederum auch andere Formen von Emotionalität eröffnen und man kann dann vielleicht manchmal sogar etwas progressiver sein. Ich finde, das passt sehr gut zusammen in einer Person, meine Tante. Und wir können darüber auch sehr often gut diskutieren. Das merkt man. Die Politik ist aber doch auch ein emotionales Feld und nicht nur ein rationales Feld…”Der Herr Wałęsa gefällt mir optisch einfach besser. Also muss er das auch werden.” Er muss emotional sein, er muss ein Gefühl für die Sorgen und die Seele des Patienten bzw. für die der Menschen und der Gesellschaft haben. Der Politiker wie der Arzt haben eine Verantwortung, die sie “nicht nur und nicht vorrangig emotional zu treffen haben, sondern aufgrund der Einsicht in die Notwendigkeiten.” Jemand sagte: entweder man nimmt den Bergsteiger oder den Arzt. Denn auch der Bergsteiger hat, wenn er Bergführer ist, diese Form von Verantwortung: Er will etwas erreichen, er will zum Gipfel, aber einen Durchstieg durch eine Rinne zu machen, die gefährlicher ist als ein anderer Weg, wäre unverantwortlich. Priestertum als die Politik ist also ein Beruf mit viel Verantwortung und ein Beruf, der davon abhängt, dass man wirklich versucht, die Dinge zu verstehen, um dann mithilfe des Verstandes richtig zu entscheiden; am Schluss muss das immer ein rationaler Prozess sein. Als ich meinen Direktor getroffen habe und als wir dann so richtig zusammengekommen sind, habe ich gewusst: Das ist er!… Was will man denn mit einem Menschen auf dem Bildschirm? Ich bin auch kein Anhänger von Facebook oder Twitter. Nein, nein, das muss schon Fleisch und Blut haben. Was ist anders als früher? Nun, das Ganze hat sich ja in diesen 25 Jahren unseres Priestertums auch noch einmal geändert….Ja, schon, aber da würde ich nun auch wieder sagen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Jugend und Alter. Wenn mir das mit 50 Jahren passiert wäre, dann wäre das ganz anders gewesen als damals, als mir das mit 25 Jahren geschehen ist. Mit 25 Jahren hat man einen solchen Druck in Richtung auf das Leben, auf das Lebenwollen usw., dass man das zwar sein Leben lang mit sich trägt, aber es eben doch besser einkapseln kann, wenn man noch so viel Zukunft vor sich hat. Ich glaube, schwere Schicksalsschläge lassen sich mit jungen Jahren besser verarbeiten als im höheren Alter. Nun Direktor da ist einfach ein Mensch, der mich sehr interessiert als zweiter Christus. Ja. Aber der Mensch ist eben auch nicht nur seine Geschichte, sondern er ist schon auch das, was er im Moment ist, was er im Moment darstellt. Das war eigentlich nie schwierig, sondern es war im Grunde genommen eher spannend, diese beiden verschiedenen Milieus zu erleben…Ich glaube, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht wenigstens ein paar Seiten oder doch zumindest ein paar Sätze nahrhafter Literatur lese, wie ich das gerne nenne: ein Gedicht oder ein paar Seiten aus einem wirklich guten Prosabuch. Ja, ich brauche das. Heute brauche ich das vielleicht nicht mehr so stark, aber mir ist das einfach so zur Gewohnheit geworden wie meinetwegen das Zähneputzen. Literatur ist für mich wirklich ein Lebensmittel…Die Literatur hat ja auch meines Leben geprägt…Das ist der Geist, der sich den Körper baut! Bei Schiller heißt es: “In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne!” Ich brauche Raum, und den habe ich eben in unserer Beziehung. Das ist diese Dialektik von Geborgenheit und Freiheit. Wenn man das in einer Beziehung erreicht, dann ist das wunderbar, denn besser geht es nicht… Ich habe immer gesagt: Wenn meine Kirche zu 51 Prozent recht hat, dann bin ich froh. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, immer alles zu wissen. Keine Kirche weiß immer alles besser…Und so eine fruchtbare Diskussion ist ja doch ein großer Quell von Freude…Das Schreiben ist für mich eine Lebensäußerung. Wenn ich jetzt wirklich nicht mehr schreiben könnte, dann würde ich siechen, dann wäre ich nicht mehr wirklich lebendig…Sprache spielt und mit der Sprache verbunden ist. Ich habe auch eine sehr starke Neigung zur Malerei, noch stärker als zur Musik. Aber die Sprache und das Schreiben sind für mich doch noch wichtiger. Wie gesagt, das ist für mich ein Weg der Klärung und der Verbindlichkeit. Auch daraus entsteht dann wiederum eine Bindung zwischen uns beiden.

Leave a comment