“Ach, das ist Mist, was du da spielst”

Stanisław Barszczak, “Sie hat eigentlich recht!”

Als wir mit meiner Mutter nach Ząbkowice kamen (1964), war Ich das eigentlich nur für drei Jahre gedacht, aber wir sind dann doch geblieben, und seitdem lebe ich hier. Vorhandene Glashütten in Ząbkowice beigetragen, dass wir dort mit meiner Mutter leben könnten, das man uns nicht einmal von dort aus mit meiner Mutter nahm irgendwo weit weg. Ich bin aber Bewohner von Częstochowa, weil ich mein ganzes Leben hier habe: meinen Beruf, priesterliche Familie usw., es ist alles hier in Częstochowa. Denn in Częstochowa ist berühmt auf der ganzen Welt das Bild einer schwarzen Königin von meiner Heimat, hier werden jeden Tag Wunder geschiehen. Ich bin aber doch ein bisschen zerrissen und ich habe immer noch ein sehr emotionales Verhältnis zu meine Heimat. Ich empfinde es als ein ganz wunderbares Land- und als ein ganz schreckliches Land zugleich. Letztlich das Polen hat z. B. etwas, was ich wirklich bewundere. Da können Leute etwas falsch machen und dann übernehmen sie die Verantwortung dafür, indem sie dafür bezahlen, ins Gefängnis gehen usw. Und wenn sie wieder herauskommen, können sie weitermachen und sind nicht für ihr Leben stigmatisiert, wie das bei uns manchmal der Fall ist. Es stellt sich heraus, dass Manches ist dort auch klarer. Wenn man z. B. 1960 aus Osten nach Westen wegging, dann ist man nicht wiedergekommen. Und deswegen haben die Leute zueinander gesagt: “Es war wunderbar mit dir! Du kannst jederzeit wiederkommen! Du bist willkommen!” Aber man wusste, dass sie meistens gar nicht wiederkommen können. Das ist eine ganz andere Art des Umgangs miteinander: Man ist schneller dran an den Menschen und eben auch schneller wieder weg. So wir sich in Ząbkowice fühlten, zum Beispiel wie in Kalifornien fühlten sich Menschen hundert Jahre zuvor. Heute ist die Beschleunigung der Zivilisation. Nur von Zeit zu Zeit noch fahre ich nach Ząbkowice, alte Freunde und bekannte zu treffen. So, als der „ältere Bruder“ von vier wachsenden Kindern meiner Freunde, Familie Kwieciński, auf die Welt zu kommen, habe ich Reifung zu den Pflichten dieses Geschwisters aus der Nähe gesehen, ist ja wohl auch etwas Eigenes: Wie war das, dieses Gefühl, ein Nesthäkchen zu sehen? Bartek ist der jüngste. Man meint ja bei einem Nesthäkchen immer: Der ist absolut aufgehoben, der wird immer gehutscht, geschaukelt und die größeren Geschwister passen auf ihn auf usw. Aber ich hatte immerhin in ihrer Heimat einen großen Vorteil: Ich war nie allein! Es war immer jemand da für mich. Und man hat auch auf mich aufgepasst. Aber wie Kinder eben so sind im Umgang miteinander: Das geht schon rau zu und da muss man schon schauen, wo man bleibt. Es gab auch Momente, in denen ich als„ältere Bruder“ von außerhalb der Familie nicht mit dabei sein durfte, und das war dann blöd. Aber insgesamt hat das sicherlich mein Leben geprägt, denn ich bin gewohnt, ein Freund von ihrer Familie zu sein. Wenn meine Mutter war, haben wir die Familie Kwieciński, Familie Budniak auch wie solange der jüngster ihrer Familie, sehr oft besucht. Und nun bin ich aber in der Kirche von Częstochowa, in der ‚Heimat der Marianer in Allenstein‘ (in Olsztyn) sehr oft nicht mehr der Jüngste, sondern der Älteste, und da wachsen einem dann andere Aufgaben zu. Denn die Jüngeren – die aus meiner Sicht Kinder sind, was natürlich nicht stimmt, weil das bereits erwachsene Leute sind, weil das mit 50 Jahren wirklich keine Kinder mehr sind – schauen auf zu einem und da muss man dann schon ein bisschen aufpassen. Ich kann also diese Position des Jüngsten nicht mehr weiter durchziehen. Denn diese Position ist bzw. wäre ja sehr angenehm, weil man dabei immer ein bisschen verantwortungsfrei ist. Solche Situation in seiner Heimat zeigt in einem Interview Walter Sittler deutscher Schauspieler auch. Jemand war immer gut mit mir. So eine Großfamilie funktioniert ja nach eigenen Regeln. Wenn jeder seine Aggressionen ausleben würde, dann ginge es gar nicht. Das heißt, man lernt in einer Großfamilie schon auch, die Dinge manchmal ein bisschen unter den Teppich zu kehren. Denn eine Familie ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und wenn da der Schwache auch noch gedrückt wird, dann fällt das ganze Ding auseinander, er sagte. Es gibt Leute, die wissen viel mehr als ich und da bin ich doch gut beraten, von denen zu lernen. Das war für mich gar nicht so wild, denn als Kind geht man halt dorthin, wohin auch die Eltern und die größeren Geschwister gehen. Und sie sind wirklich eine sehr starke Gemeinschaft. Obwohl sie vor Jahren in Ząbkowice aus der Ferne kamen. Weißrussland ist ihre Heimat, obwohl sie nicht mehr sehr oft dort ist. Sie besuchen dort ihre Geschwister, dann bereits in Polen, aber sie wohnen dort schon ewig nicht mehr. Dennoch ist das ganz klar ihre Heimat. Ich selbst habe das nicht. Die Politik, religiöse Zeitgeschehen in Polen… Wir haben in der Familie darüber fast überhaupt nicht gesprochen. Ich habe auch von meiner Mutter nur wenig darüber erfahren können, denn das mochte sie nicht so. Sie hat nur immer wieder gesagt: “Wer es nicht erlebt hat, kann nicht viel darüber sagen.” Mein Vater starb, als ich 17 Jahre alt war: Damals war ich noch nicht in der Lage gewesen, mit ihm zu reden. Ich sah ihn nur einmal in meinem Leben. Ich habe mich aber in meiner Schulzeit von mir aus ganz intensiv mit dieser Zeit befasst. In Polen war es die Zeit des Kommunismus. Ich weiß, was mein Vater meine Mutter gemacht hat, und er bleibt auch immer mein Vater – denn anders geht es ja gar nicht. Aber ich verherrliche das nicht, ich verdamme es nicht, sondern ich schaue es mir an und frage, was die Lehren daraus sind: Wie ist es möglich, dass er als promovierter Forstwirtschaftlehrer so an dieser Ideologie gehangen hat? Was hat ihn dazu gebracht? Ich habe seine Geschichte näher verfolgt und weiß, dass dass die ganze Familie Chodzicki in Warschau war und später nach Krakau gekommen ist, also aus der Warschauer Wirtschaftskrise. Ich werde nicht um ihn zu verteidigen, bevor das Recht jedes Kindes auf Leben. Er las viel zu und hatte überhaupt eine große Affinität zur Schweizer Geisteswissenschaft – wie sie übrigens viele deutschstämmige Schweizer haben. Das war bei ihm fast schon eine naive Verherrlichung. Wenn man das alles zusammenzählt, dann weiß man, dass man als junger Mann so einer Ideologie möglicherweise verfallen kann. Er war ja auch wirklich sehr jung damals. Ich selbst nehme jedenfalls für mich nicht in Anspruch, dass ich dem entgangen wäre. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich in seiner Position gewesen wäre. Denn es ist schon verführerisch, ein ganz klares System zu haben, nachdem man denken kann, das einem sagt, was richtig und was falsch ist, das auch so ein bisschen männlich ist usw. Damals wussten das auch viele, aber sie haben es nicht sagen können und nichts dagegen machen können. Auch daraus kommt ein Teil meines ‘politischen Engagements’, weil ich finde, dass man als Bürger, wenn man kann, eigentlich die Pflicht hat, sich einzusetzen. Das ist Teil der Demokratie, das ist lebendige Demokratie, wie Walter Sittler gesprochen hatte. Nun beschreibe ich mein Leben für alle und keine. Ich begann ernsthaft zu schreiben, vielleicht sogar nur in der Schublade für die Nachwelt. Diese Strukturen auch mal in der Wirklichkeit zu sehen und nicht nur auf dem Papier, das ist mein Traum. Nun, ich weiß nicht so genau, was mir in die Wiege gelegt worden war. Aber wann habe ich denn diese andere Seite, dieses Schöngeistige in mich entdeckt? Das Engagement in Częstochowa hat damit zu tun, dass da doch irgendwann die Vergangenheit hochkommt. Ich habe also keine Verpflichtung, etwas zu nehmen und die weniger zu tun. Schlagen da zwei Herzen in Ihrer Brust? Meine Mutter hat einmal zu mir etwas gesagt, was mich sehr beeindruckt hat. Das war damals, als ich vom Kloster Klosters der Barmherzigen Brüder im Viertel Kazimierz. weggehen wollte, weil mir die Situation in Krakau nicht mehr gefallen hat und ich die Möglichkeit hatte, reisen zu tun. Die Kollegen waren damals noch ‚klein‘, sehr weit weg von mir und ich wollte also jetzt freiberuflich in der Kirche arbeiten. Sie sagte mir: ‘Das schaffen wir schon!’ Das hat mir den letzten Kick gegeben, sodass ich mir sagen konnte: ‘Stimmt, das schaffen wir schon!’ Denn wie hätte ich im Jahr 1992 wissen sollen, was zehn Jahre später passiert? Das kann man nicht wissen. Entweder man traut sich oder man traut sich nicht. Aber man muss eben immer wieder versuchen, Türen aufzumachen. Mein Schreiben- Das ist ‘ein romanartiger Stoff’, bei dem es um vieles geht, nicht nur um Heimat. Und deswegen war das für mich in all diesen Jahren auch durchaus keine einseitige Beschäftigung, sondern das war für mich wirklich ein Spiegelbild des Lebens. Es war auch nicht so, dass ich vor 25 Jahren zu Beginn bereits gewusst hätte, wie das Ganze mal enden soll. Nein, das ist einfach aus diesem permanenten Dialog mit den professionellen Möglichkeiten und auch der eigenen Biographie entstanden, sodass das also identisch geworden ist mit einem mit Arbeit erfüllten Leben. Ich hätte auch nicht gedacht, dass das so hart ist, aber auch das ist eben eine gute Erfahrung. Sonst habe ich in meinem sozialen Leben und in meinem Arbeitsleben wie gesagt wahnsinnig viel Glück gehabt. Ganz dasselbe sagt der Herr Walter Sittler. Das Schreiben, hätte ich auch nicht gedacht, dass das so hart ist, aber auch das ist eben eine gute Erfahrung. Sonst habe ich in meinem sozialen Leben und in meinem Arbeitsleben wie gesagt wahnsinnig viel Glück gehabt. Auf diese Weise scheint es mir, durch das Schreiben, wie ich ständig auf dem Schoß der Mutter säße, obwohl das Haus nicht mehr ich lief weg, indessen ich entfloh.

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