Stanisław Barszczak, Da habe mich die Literatur gerettet
Es gibt ja im “Wilhelm Meister” diesen großartigen Spruch von Goethe: “Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken!” Wie lebe ich denn meinen Glauben? Ich habe einmal von sich gesagt. Das ist eine sehr private Frage, die ich aber dennoch zumindest teilweise beantworten werde. Ich beschäftige mich intensiv mit der Bibel, also mit den Religionsgesetzen in ihrer historischen, in ihrer “theologischen” Dimension. Ja, ich bete auch, mal mit Gebetbuch, mal ohne. Religion ist für mich vor allem insofern wichtig, als sie dem einzelnen Menschen, sei er noch so erfolgreich oder erfolglos, verdeutlicht: Es gibt jemanden über dir, du bist nicht das Maß aller Dinge. Gerade auch in erfolgreichen Situationen – fast bin ich ängstlich, es
auszusprechen, aber ich stand doch trotz vieler Anfeindungen auf der Sonnenseite des Lebens –also vor allem in Situationen, in denen ich mir dieser Sonnenseite bewusst werde, empfinde ich tiefe Dankbarkeit. Und als religiöser Mensch danke ich, wenn Sie so wollen, Gott. Wie auch immer ich mir Gott vorzustellen habe – jedenfalls sehe ich ihn nicht gemäß diesem Kinderglauben als alten Mann mit langem, weißem Rauschebart, wie er in vielen schrecklichen Religionsbüchern abgebildet ist. Nein, so stelle ich mir Gott jedenfalls nicht vor. Aber ich weiß doch, dass über den Menschen noch Gott steht… Es geht also bei so etwas auch um christianische Kontinuität: Uns liegt an der Fortsetzung des christianischen Kollektivs in seiner großen religiösen, kulturellen und
philosophischen Tradition. Insofern habe ich also die Kritik daran durchaus verstanden. Aber ich bin jetzt der Priester seit 26 Jahren glücklich und wir mit meinen Freunden haben einen Weg
gefunden, bei dem sich das alles gelegt hat. Wir haben hingegen, wie ich meine, individuell-familiär einen sehr guten Weg gefunden, aber ich würde diesen Weg nie als allgemeines Rezept empfehlen können. So etwas muss man immer individuell erleben und entwickeln. Gleichzeitig muss man sich aber dessen bewusst sein, dass bei dieser Individualität die Kette “Ich-Familie-Gemeinschaft” durchbrochen werden kann, möglicherweise sogar beendet wird. Nun könnte man natürlich sagen: Alle Hochkulturen gingen mal rauf und dann wieder runter. Aber ich denke doch, dass man einen Niedergang ja nicht freiwillig einleiten muss. Das ist also das klassische Spannungsfeld der Moderne zwischen individueller Selbstbestimmung und Zugehörigkeitsgefühl –
zu welchem Kollektiv auch immer. Vor sieben Jahren meine Mutter ist in Olkusz gestorben. Eine freie Stadt besteht von der Erfahrungen. Olkusz war da fast schon ein Schlaraffenland. Es gab natürlich auch viele, viele für mich riesengroße Ruinen. Ich weiß es aus Erfahrung. Wir hatten vorher das alte Rom besucht, wo es ja bekanntlich auch Ruinen gibt, allerdings aus anderen Gründen. Für mich kleinen Jungen schien das zerstörte Olkusz so etwas wie das alte Rom.
Ich lernte jedoch den Unterschied dann doch bald kennen. Ansonsten fühlte ich mich sehr schnell zugehörig. Und ich war auch in einer ganz merkwürdigen Klasse… Denke immer noch gleich wieder zum Ząbkowice, nun Dąbrowa Górnicza. Ich war ja in Schlesien geboren und hatte dort auch die ersten paar Jahre gelebt. Hätten ich mich vorstellen können, in Ząbkowice zu leben? Nein, keine Sekunde. Das wäre für mich ja auch völlig unmöglich gewesen. Ein Mensch meiner Denkungsart ist ja bereits unter konventionellen Verhältnissen schlecht dran. Danach dann aber bin ich in Tczestochau groß geworden. Meine Frage war also: “Wo gehörst du hin? Wo fühlst du dich mehr hingezogen?” Man kann ja bekanntlich nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Diese Ungleichzeitigkeit erfordert also auch eine inhaltliche Bestimmung und eine Ortsbestimmung. Ich bin Pole. Es ist schon eine Zukunft von mich da. Aber die ist der Tod. Ich habe in einem Zeitungsartikel geschrieben. Was habe ich da gemacht? Als Herr Mazowiecki Tadeusz an die
Macht kam im Jahr 1989, was ging da in Ihnen vor? Ich fand ihn toll. Aber wir hätten in Polen zu viele Tabuthemen. Ja, wir haben nur Tabuthemen. Außerhalb der Sexualität ist alles tabuisiert. Fürchterlich. Da ist was dran. Der Mangel an öffentlichem Enthusiasmus, an Begeisterung für das Land, an Hochachtung vor den Vorfahren und an einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber den nach uns Kommenden: Das alles hat mit diesem gestörten Verhältnis zu uns selbst zu tun. Das ist meiner Meinung nach der Hauptgrund, warum wir nicht in die Pötte kommen, warum im
Grunde genommen diese ganzen Reformen alle nichts werden. Wir reden nun allmählich bereits seit Jahrzehnten über die öffentlichen Mängel, aber es passiert nichts bzw. es passiert immer nur winzig wenig. Betrifft das vor allem auch den Bevölkerungsrückgang? Was machen wir denn, wenn wir am Anfang des Jahrhunderts nur noch 40 Millionen sind? Das bedeutet doch das Ende des Landes. Es flirtet schon mal mit Nationalkonservativen, um am Ende doch wieder bei sich
selbst anzukommen. Denn…Diese elbstbeweihräucherung durch Leisetreterei, das ist doch furchtbar in Polen…Aber wir müssen doch mit den Parteien leben, die wir jetzt haben, denn ohne Parteien gibt es keine Demokratie. Es gibt viele Leute die haben eine große Begabung darin, Macht zu gewinnen und zu halten. Wir sind doch mal ein tüchtiges Volk gewesen: Vor 40 Jahren
waren wir sozusagen die führende Industriemacht auf dem Ost- Europa. Heute sind wir ein Altenheim in einem Industriemuseum. Ich meine, das ist doch eine Schande sondergleichen. Wir müssen uns schämen für das, was wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen. Viele haben ja gar keine Kinder und Enkel mehr und haben insofern für sich bereits die Schlussfolgerung daraus gezogen. So wie die Polen sind, können sie jedenfalls nicht bleiben. Das geht auf gar keinen Fall. Sehe ich also nur schwarz für die Zukunft? Nunja, ich würde ja nicht reden, wenn ich glaubte, dass das alles bereits gelaufen wäre. Ich denke, dass die Polen einfach irgendwann aufwachen werden. Wir haben ja einen sehr langen Geduldsfaden, aber irgendwann wird dieser Geduldsfaden reißen. Ich glaube also, dass dieses Land für sich und für andere immer wieder eine große Überraschung sein wird. Und es gelingt mich nicht, diese lange Lebenszeit als Ernte einzufahren
und stolz zu sein auf meine großen Leistungen und mein Leben? Sie wollen von mir, dass ich von Zufriedenheit spreche. Sie wollen hören, ja, ich bin zufrieden, ich habe dies erreicht, ich habe das erreicht. Das ist nicht zu haben. Na ja, Kinder in Christus haben, was wollt ihr? Aber nun wie ich mal gesagt habe, Ich bin nicht glücklich. Ich bin überhaupt nicht glücklich. Ich war es nie in meinem Leben. Ich war es nie. Ich war nie in meinem Leben glücklich. Das ist etwas, was ich nicht kenne. Und es gibt noch etwas, was ich nicht kenne. Ich kenne keinen Stolz. Alle fragen mich: Sind Sie stolz? Aber das Wort Stolz ist mir nicht bekannt. Aber der Leser war mir sehr wichtig. Meine Liebe zur Literatur war nie so blind, dass ich die Leser aus den Augen verloren hätte. Ich wollteverständlich sein. Ich schreibe jede Woche meine Kolumne für Blog durch Internet. Ich wollte den Leuten mitteilen, dass Bibel und Liebe ein sehr wichtiges Stück ist. Dass Shakespeare ein großartiger Autor ist. Jetzt passen Sie mal auf. Ich bin in Polen in der Ortschaft Tarnowskie Góry geboren. Meine Eltern beschäftigten sich mehr mit Erde als mit Literatur. Ich habe sehr viel gelesen, von Anfang an. Ich kam nach Tczenstochau, ich wurde in kurzer Zeit, in sehr kurzer Zeit der beste Polnischeschüler. Und natürlich war ich als der glänzende Polnischeschüler in der Schule ein Anderer. In meiner Autobiografie ‘Mein Leben’ bleibt mein Lehler der Polnische Sprache ganz im Hintergrund, aber er erscheint als Versager… Ich wurde dort sogar genommen, ging dann aber doch lieber zum Rundfunk, weil ich das einfach interessanter und spannender fand. Nein, ich bin wirklich das Musterbeispiel eines Menschen, der nicht wusste, was er wollte. Durch die Zufälligkeiten des Lebens, insofern es das überhaupt geben sollte, bin ich dann sozusagen auf die verschiedenen Bahnen gekommen, die mir Spaß gemacht haben. Eine Geschichte ist überliefert. Ich glaube, ich war auch nie wieder in meinem Leben so angespannt gewesen wie in meiner Zeit beim Polnischen Rundfunk. Aber die Zeit war dennoch herrlich. Ich bin
also immer noch sehr dankbar für die Kollegen, die ich dort gehabt habe. Denken Sie nur einmal an Vater Zdzisław Wójcik oder an den anderen Freunden. Das waren sehr wichtige und vorbildliche Kollegen. Das hat mich wirklich sehr geprägt. In vieler Hinsicht war das die glücklichste Zeit, aber auch die anstrengendste Zeit. Große, umfangreiche Bücher schreiben
zu können: in der Wissenschaft hat man, muss man die Chance dazu haben. Im Journalismus hat man sie fast nie. Für mich war daher die Wissenschaft schon eine ganz tolle Chance. Insofern denke ich an diese Seite der Wissenschaft, dass ich das habe nutzen können, auch mit großer Dankbarkeit zurück. Aber Ich bin schon auch immer so ein bisschen ein getriebener Mensch, oder? Ich habe sehr viel publiziert und gemacht. Das habe ich schon als Kind gespürt. Die beiden Götter meiner Jugend waren ja einerseits Steffen Żeromski und andererseits Maria Konopnicka. Thomas Mann hat ja an irgendeiner Stelle auch mal gesagt: “Man muss es nur nötiger haben als andere, dann macht man sich bei der Menschheit einen Namen.” Dieses Gefühl, “es nötig zu haben”, also
dieses Gefühl eigener Defizite, hatte ich sehr stark, wirklich sehr stark. Das habe ich wahrscheinlich immer noch. Kommen wir zurück auf die sechziger Jahre. Sie haben sich natürlich sehr interessiert für das, was damals in der Tschenstochau passiert ist. Sie hatten z. B. zu Vater Stanisław Kończyk guten Kontakt. Manche sagen, er sei der Hildebrandt gewesen. Er ist bis heute ein Freund von mir. Dann wie ich gesagt habe, Vater Josef Tischner in der achziger Jahren der zwanzigsten Jahrhunderts wir haben uns in Krakau während des philosophischen Treffens kennen gelernt. Vater Tischner- Ich würde mein Vater nach wie vor nennen, denn er war eine
bedeutende und vor allem sehr sympathische Figur. Er war ein Visionär. Ich habe ihn jedenfalls sehr gemocht. Adenauer hingegen zu mögen, war nicht meine Sache. Dazu war er doch zu knochig und eben auch zu kühl, fast schon zynisch. Vor drei Jahren Vater Sebastian aus Indien wir haben uns in Lódź während des philosophischen Symposiums kennen gelernt. Vielleicht ist das ganz charakteristisch für mich: Er war der Einzige aus der Indien, der damals dort in Lódź war. Die übrigen in dieser Gruppe, in dieser Jugendgruppe. Persönlich ist das ein angenehmer Mann.
So lange ich mit ihm ein gutes Verhältnis hatte, fand ich es immer sehr angenehm mit ihm. Er ist umgänglich, schlagfertig und in hohem Maße medientauglich. Die junge Leute setzen ihm zu und sagten z. B.: “Wie kann man denn nur in Indien leben?” Mich ärgerte das, denn ich fand, dass man sich diesen Mann doch erst einmal ansehen sollte. Man sollte ihn reden und erzählen lassen, was er so alles erlebt hat und was er macht. Ich habe mich also im Grunde genommen aus Trotz gegen diese asiatische Überheblichkeit ihm gegenüber mit ihm befreundet. Das heißt, ich wollte ihn zum Essen einladen. Da er aber arm war, er hatte nämlich kein Geld, hat er das nicht akzeptiert. Er sagte: “Nein, ich lasse mich von Ihnen nicht einladen!” Damals siezten wir uns noch. Ich meinte dann zu ihm: “Wie wäre es denn, wenn wir am Wisła ein Picknick machen würden? Wenn wir uns dort irgendwie unter diese berühmte Brücke setzen? Eine Flasche Wein werden Sie doch akzeptieren und Käse und Brot ist ja nicht so teuer.” Mit anderen Worten, wir haben uns damals befreundet. Über Jahrzehnte hin war das dann eine ganz, ganz wichtige
Verbindung. Eines Tages ging ich mit meinen Texten zur Redaktion von ‘Tygodnik Powszechny’ in Krakau. Aber die Redaktion hat mich nie im Haus haben wollen. Ich muss Ihnen eine merkwürdige Geschichte erzählen. Tschenstochau hatte einen Mitarbeiter in Krakau, der Kardinal Stanisław Dziwisz. Der wurde zu Konferenzen nach Tschenstochau eingeladen. Einer wurde nicht eingeladen, einer kam nicht rein, das war ich. Ich war nie einen Tag, eine Stunde in diesem Treffen..
Mitarbeiter kamen von weit her, ich saß in Olsztyn und durfte nicht kommen. Ich bin nicht geduldet worden. Ist das ‘Antisemitismus’? Ich weiß es nicht. Dann war ich nie von Fest von der unserer Sister Sophia zur Präsentation seiner Name in Tschenstochau eingeladen worden sei, und eines Tages mich sehr veehrte Bischof Johannes Wątroba unter den Gästen erblickt hätte. Er kam schon auf mich zu, er war bezaubernd immer zu mir, ich denke. Ich habe mit ihm gesprochen über das Stipendium der heiligen Messe. Dann habe ich Ihnen in seiner Wohnung getroffen,
das weiß ich nicht mehr.Das Telefon klingelt. Er hebt ab. Ja. Ja. Liebe, ich freue mich, dass du hier bist. Hast du irgendwelche Neuigkeiten erfahren? Ich werde die Herrschaften hier fragen, ob sie das für möglich halten. Also, ich werde morgen mit dir telefonieren, adieu. Er legt auf, und
gibt mir das Buch über Heiligen Paulus von Tarsus. Ich begann den heiligen Paukus zu verehren …Ich hätte das nie in meine Texte nehmen sollen, vor allem über den Bischof von Tschenstochau. Aber Ich war zu scharf, und ihr habt dies jetz. In meinem Zimmer, in der ich seit Jahrzehnten lebe, ist beinahe alles unverändert. Im Leben habe ich viele Bücher gekauft. Was habe
ich mit meinen Büchern gemacht? Viele habe ich weggegeben, die, die ich nicht mehr brauche. Ich lese die Welt, die ZEIT, den Spiegel, häufiger als früher. Ich lese Zeitungen aus der ganzen Welt. Ich habe verschiedene Bücher gelesen. Ich frage mich: Muss ich schon wieder einen Roman lesen? Damals war ich schon nicht mehr so konsequent an Literatur interessiert. Ich hatte nach dem Krieg über meine Freichheit von heute keinen Beruf. Ich hatte keine Arbeit. Es war überhaupt
nicht klar, was ich machen sollte. Jetz ich wohne in Olsztyn in der Nahe von Tschenstochau. Ich bin mit einem Wörterbuch hierhergekommen, mit einem deutsch-polnischen Wörterbuch in zwei Bänden. Es ist das beste und älteste deutsch-polnische Wörterbuch, aus dem Jahr 1982. Die große Frage war, wovon werde ich leben? Die Hoffnung war, ich werde leben, weil ich die Wörterbücher habe. Sie lagen immer da, und sie liegen da bis heute. Aber ich will jetzt sagen. Da habe mich die Literatur gerettet. Ich meine jetzt eine Wahrheit zu errichten. Ich möchte
sagen, es ist ein Skandal in der Mann der Mangel an Wahl, und auf den Instynkt nur sich beruhen! Es sollte das nicht eine Leistung von plötzlichen Entdeckungen sein! Doch der Glaube an die
Mutter Gottes von Tschenstochau. Und schließlich, das ständige Gebet. Das denke ich und das hoffe ich natürlich auch. Sehr geehrte Leser. Ich bedanke mich herzlich für Ihren Besuch in meinen Gedanken.