Gericht unserer Zivilisation

Stanislaw Barszczak—Oase der Kindheit und Jugend—

 

Weltbekannte Schauspielerin fragt:”Indem man das nicht parallel nebeneinander macht, sondern eben hintereinander. Und das hat alles ja auch eine ganze Weile gebraucht.” Ich bin in diesem Jahr 50 Jahre geworden: Diese Zahl hat mir doch mehr Eindruck gemacht, als ich gedacht hatte und sie hat mich dazu gebracht, mein Leben ein bisschen zu überdenken. So ist auch dieses Buch entstanden (Quittungen für den Wohlstand und Hoffnung, Częstochowa 2011), das ich vor etwa einem Jahr begonnen habe zu schreiben. Es hat sehr viel mit Erinnerungen zu tun, von denen man mir erzählt hat: Das sind die Erinnerungen meiner Mutter, die ich aufschreiben wollte. Und es hat eben auch mit meinen eigenen Erinnerungen zu tun. Ich habe gar nicht gedacht, dass ich bereits so einen Buckel voll Erinnerungen zu tragen habe…Ich kann ihn schon erklären. Aber eigentlich war es so, dass auch ich selbst überrascht war von diesem Titel: Er war einfach plötzlich da. Mit einem Mal

war er nämlich in meinem Kopf und dann habe ich ihn hingeschrieben. Natürlich habe ich dann auch darüber nachgedacht, warum ich das jetzt hingeschrieben hatte. Ich hatte nämlich als ein junger Priester in der Pfarrei Blachownia wirklich diesen wunderbaren Traum, dass man sich auf ein Fensterbrett stellen und sich weich in die laue Luft hineinlegen könnte, dass man sich das zutraut, dass man über alle Schwierigkeiten hinwegkommen könnte. Zuvor habe ich als Kind auch so einen Traum gehabt. Aber man verliert dann als Erwachsener diesen Traum wieder – was eigentlich schade ist. Ich habe in diesem Buch eine Grundhaltung: ich erzähle all das, was mir widerfahren ist, mit einem gewissen Staunen. Ich glaube, es geht eben auch immer wieder um Anfänge. Ich finde nämlich die Anfänge immer am interessantesten: der erste Schultag, der erste Tag am Tischner-Seminar als Philosophen, meine Anfänge am Pfarrhaus, und Haus Mutter usw. Ich glaube, damit hängt auch zusammen, dass ich mir so sehr viel zugemutet habe – vielleicht aus der Unwissenheit und Unerfahrenheit eines 17-Jährigen Bursches heraus. Ich habe z. B. als jungen Student behauptet, ich könne Englisch sprechen, als das überhaupt noch nicht der Fall war. Das war ganz schön frech – aber auch mutig. Ich bin damals wirklich keinem Wagnis aus dem Wege gegangen. Deshalb passt dieser Titel vielleicht doch zu meinen Anfängen Mitteilung über meine spirituelle Erfahrung. Mir ging es in diesem Buch jedenfalls nicht um die quantitative Aufzählung meiner Arbeiten, denn diese Zahlen bedeuten ja nichts. Ich habe dann gemerkt, dass ich eigentlich mehr und mehr Stimmungen beschreibe, dass ich eine ganze Zeit, eine Epoche beschreibe: die zehnte Jahre der 21 Jahrhundert. Das hat dann plötzlich so breiten Raum eingenommen, dass ich gesehen habe: Es gibt Berichte in dem Buch von meinen Reisen in verschiedene Menschen auf der ganzen Welt. Ich werde mit der Art, wie ich erzähle, aber niemals auch im Antarktyda landen. Also lass ich es lieber sein, das krampfhaft zu versuchen! Letztlich finde ich diese Beschränkung auch gar nicht schlecht…Ich denke, meine Bücher sind ja auch sehr unterhaltsam und mich haben vor allem amüsiert, dass ich immer so eine gewisse ironische Distanz einnehmen. Zum Beispiel schreibe ich darüber, dass ich von Anfang an immer schon Priester werden wollten – was ja auch sehr interessant und sehr erstaunlich ist. Ich erlebte dann die verrücktesten Dinge auf diesem Weg, in diesem Beruf und manchmal hatte ich das Gefühl, ich halte jetzt inne und denke an die kleine Wohnung in Częstochowa in der Katedralna Straße und sage mich: “Das kanndoch nicht wahr sein! Bin ich das jetzt wirklich?” Aber das habe ich eigentlich nicht so schreiben wollen. Das Staunen, dass ich fliegen kann, liest man sicherlich heraus, das stimmt. Es gibt ironische Distanz in meinem Schreiben. Ich glaube, das ist einfach eine Unsentimentalität, mit der ich sehr sentimentale Gefühle beschreibe. Und genau das empfinden Sie wahrscheinlich als Distanz. Aber ich bin diesem jungen Bursche, den ich einmal war, sehr nahe gekommen durch das Schreiben. Wieder nahe gekommen… Einmal traf ich Frau Kwiecinski. Meine Mutter und ich haben sie an einer Straßenbahnhaltestelle in Ząbkowice kennengelernt. Sie arbeitete mit meiner Mutter in einer Glashütte, in der lokalen Wirtschaft.Ich konnte ja als Kind nie ruhig stehen: Ich musste immer irgendetwas machen, gehen, laufen, springen, hüpfen usw. In diesem Fall, es war gerade Frühlingsanfang, mit Gedanken war ich schon auf dem Hof ​​hinter unserem Haus, wo wir würden mit seinen Freunden in den Krieg zu spielen … spielte ich da vor der Straßenbahnhaltestelle während des Wartens einen Schmetterling. Ein anderes Mal rettete ich nach einem Sturz die Treppe hinunter Frau Skalska. Das war halt sehr auffällig und diese Dame – das war eine etwas ältere, sehr merkwürdig gekleidete und auch stark geschminkte Frau mit russischem Akzent – meinte dann: “Diesäs Kind ist begabt! Diesäs Kind muss lärnen feiern Messe, um zu beten. Da ich hinter einer Wand der Kirche war, dann sehr oft lief ich in die Kirche zu einem Priester tragen. Und Sie selbst sagte Herr Nanuś zu meiner Mutter: “Stefka, gib ihm ein Priester.”  Und so war es dann: Meine Mutter zeigte mir die ersten Schritte der Predikt; aus einem umgedrehten Stuhl

wurde eines Altar und so lernte ich eben bei ihr meine ersten Priesterpositionen. Das war sehr schön und hat mich sehr inspiriert. Nach einiger Zeit bin ich dann auch in eine wirkliche Seminar gekommen. Ich glaube, mit sieben Jahren war ich dann in der ersten richtigen Priesterschule…Ich schreibe sehr liebevoll über meine Kindheit und habe ich ja soeben auch mit sehr viel Empathie darüber gesprochen. Ich sage von sich, ich hätte eine sehr schöne und behütete Kindheit gehabt. Aber wenn man liest, wie ich damals gelebt habe – das war ja während des Krieges und kurz nach dem Krieg der ‘Sowjetischen Regierung’ in Polen und unseren Nation –, dann erfährt man, dass das ein sehr ärmliches, ein sehr bescheidenes Leben gewesen ist. Woher kam dieser Zauber in meiner Kindheit? Alle hatten wir nichts! Und ich hatte keine Wünsche – wenn doch, dann zumindest nur erfüllbare Wünsche wie z. B. ein Eis, ein Stück Zucker, einen Schokolade, den jemand aufgetrieben hat. Es gab kein Wetteifern um Markenkleider oder um die richtigen CDs, um die richtigen Platten. Wir hatten alle nichts, und das war wunderbar. In unserem Haus herrschte auch eine große Verschworenheit unter uns Nachbarn. Die Türen unserer Nachbarn waren z. B. nie zugesperrt. Man konnte nach einem kurzen Klopfen die Tür aufmachen, eintreten und sagen: “Hallo, Frau Barszczak, was gibt’s ‘n heut bei Ihnen zum Essen?” Ich muß eine Sache gestehen: Ich hatte Angst, ich fürchtete jedoch Erdbeeren aus dem Garten des Nachbarns stehlen. Ich hatte Chuzpe, Dreistigkeit. In der Nähe waren Goleniewskis, die mich gelehrt Tapferkeit … Freunde hatte ich, aber immer noch zu weit weg … Herr Chwiałkowski …”Ja, bitte Stasiu, komm doch rein!” So war das ganze Haus in meine Kindheit. Ich hatte wirklich das Gefühl, das ist meine Familie. Als ich dann in der Schule auf die Frage antworten musste, ob ich Geschwister habe, sagte meine Mutter an meiner statt “keine”. Ich war ganz erstaunt in diesem Moment, weil ich ja das Gefühl hatte, dass ich selbstverständlich mit vielen anderen Kindern aufwuchs in diesem Städtchen und deswegen fühlte ich mich auch keineswegs als Einzelkind. Ich glaube nicht, dass ich das glorifiziere, denn ich habe jetzt, nachdem mein Buch auch in Schlesien erschienen ist, viele Briefe durch Internet (“Unsere Klasse”) von ehemaligen Schulkolleginnen und Freundinnen aus der Volksschulzeit bekommen, und natürlich auch Briefe und Anrufe von dem Bube Janusz, mit dem ich aufgewachsen bin in der Waryńskistraße 32. Die sagen alle: “Du hast es genauso beschrieben, wie es gewesen ist!” Wir hatten wirklich eine wunderschöne Kindheit unter diesen objektiv gesehen ärmlichen Verhältnissen, die ich jedoch subjektiv überhaupt nicht als solche wahrgenommen habe…Daher stammt wohl auch Ihr Optimismus, der sich immer wieder gezeigt hat, wenn Sie weiterkommen wollten als Priester?  Aus der Beten.Ob dieser Optimismus von meiner Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen kommt? Sicherlich hat das etwas damit zu tun, dass ich dann irgendwann einmal auch ein eigenes Zimmer haben wollte. Meine Disziplin und mein Fleiß, die ja für einen 25-Jährigen doch erstaunlich waren, hatten sicherlich auch damit zu tun, dass ich halt auch raus wollte aus kleinen Wohnung im Pfarrei, in der ich zuerst einmal über die Klappbetten meiner Mutter

kraxeln musste, um überhaupt in mein Bett zu kommen. Das kann natürlich schon auch ein Motor sein. Aber die Motivation, diesen Beruf zu ergreifen, war das ganz bestimmt nicht. Ich wollte halt einfach immer schon spielen, Schicksale erleben usw. In jedem jungen Menschen ist sicherlich so eine Art von Exhibitionismus angelegt: Jeder junge Mensch möchte gerne wahrgenommen werden. Und dann denkt man sich eben, dass man gerade in diesem Beruf am besten wahrgenommen wird. Wenn man erwachsener wird, sieht man jedoch, wie gefährlich das ist und stellt sich die Frage, ob man überhaupt auf diese Weise wahrgenommen warden möchte. Diese Identifikation mit dem Beruf ist auf der einen Seite etwas sehr Schönes: Das ist ein Privileg. Auf der anderen Seite hat das aber auch etwas sehr Zerstörerisches an sich. Denn es stellt sich einem als freischaffendem Künstler natürlich immer die Frage: “Wieso wird mir diese und jene Kollegin vorgezogen?” Man führt das dann zunächst einmal zurück auf sein eigenes Unvermögen: Man muss da schon sehr stabil sein, um das auszuhalten…Ich habe in meiner Jugend ja ein paar recht riskante Entscheidungen getroffen, wie man sagen kann: Das Jahr 2002 begann mit den Veränderungen und  neuer Adresse auf mich gezwungen. Es stimmt, dass im Jahr 2002 meine Mutter noch mit mir stand, und ich war noch jung …. Ich wollte Einsamkeit und das Seminarhaus gab das nicht … So, auch ich wollte weglaufen zurück zu Ząbkowice. Nach 2005 trat in mein Leben eine neue Markenidentität (noch ich ging, lief ich weg, ich mietete eine Wohnung in Czestochowa, aber es ist bereits verstrichen.) Ich war ja rücksichtslosen Entscheidungen im Leben in spätterer Jugend: aber erst nach dem Verlassen des Ząbkowice … reist in dem Buch, Freund-seeking Reise nach Łańcut (ein Freund war schon auf dem Friedhof), Fahrten Individualität … Schließlich habe ich das Abitur gemacht und ging nach Krakau. War das damals Naivität oder Frechheit? Es war beides. Es war Naivität und Frechheit und auch das Unvermögen, nein zu sagen, wenn in der Klasse plötzlich leibhaftig Vater Professor Wladyslaw Golis, und ein Jahr spätter auch Vater Grzegorz Ślęzak, die ich könnte auch in Częstochowa kennengelerhnt, die vor unseren Augen standen. Gut, heute weiß man über Ihnen vielleicht alles, die sind eine wirklich sehr imposante Persönlichkeiten für mich. Es stand jedenfalls Vater Grzegorz Ślęzak vor uns und sagte genau zu mir: “Würdest du eine kleine Rolle in dem Heiligen Messe spielen wollen?” Da möchte ich mal eine 19-Jährige sehen, die dann sagt: “Ach, nein, Vater Grzegorz, denn die Regeln meiner Schule verbieten das!” Gedacht habe ich das zwar, denn ich wusste ja, dass die Regeln meiner Schule das verbieten, aber gesagt habe ich: “Yes, of course, Father Grzegorzr!” Und so habe ich dann eben diese kleine Rolle gespielt…

Leave a comment